Ein modernes Märchen

Eines schönen Morgens erwacht Anna Lehmann und stellt fest, dass ihr größter Traum in Erfüllung gegangen ist.

Gewerkschaften sind abgeschafft und Tarifverträge gibt es auch nicht mehr!

Anna ist überglücklich: >>Endlich kann ich mein Gehalt selbst aushandeln. Und zu welchen Bedingungen ich zu arbeiten habe, schreibt mir auch keiner mehr vor. Und dann - super: keinen Gewerkschaftsbeitrag mehr. Der war sowieso zu hoch - für das, was ich dafür bekommen habe!<<

Gut gelaunt macht sich Anna Lehmann auf den Weg zur Arbeit. Den Kopf voller Ideen, wie sie ihren Plan sofort umsetzen kann.

>>...war immer zuverlässig, habe immer 100 Prozent gegeben, der Chef wird einsehen müssen, dass ich's verdient habe...<<

Schließlich ist Anna Lehmann eine gelernte Fachkraft, hat ihre Ausbildung mit >>sehr gut<< abgeschlossen und sich regelmäßig erfolgreich weitergebildet.

Voller Selbstvertrauen und fest entschlossen, ihre Forderungen durchzusetzen, betritt sie das Büro ihres Chefs: Ohne ihn zu Wort kommen zu lassen, legt sie los: >>Ich will mehr Geld und mehr Freizeit. Und zwar 3000 Euro im Monat, natürlich auch wenn ich krank bin. 35 Stunden in einer 5-Tage-Woche und 40 Arbeitstage Jahresurlaub und zu Weihnachten noch mal 3000 Euro extra. Ich habe das verdient, denn ich habe mit dazu beigetragen, dass unsere Firma so gut dasteht.<<

Der Chef hört sich diese Forderungen ruhig an. Aber dann prustet er laut los vor Lachen: >>Frau Lehmann, bekommen Sie eigentlich gar nichts mehr mit? Wissen Sie nicht, was passiert ist? Wir beide sind jetzt frei und können machen, was wir wollen!<<

>>Genau! Deshalb bin ich ja hier!<<, entgegnet Anna Lehmann trotz allem immer noch recht zuversichtlich.

>>Prima, dann verstehen wir uns ja. Ich bin jetzt - wo es die Gewerkschaften nicht mehr gibt - frei von jeglicher Tarifbindung, wenn Sie verstehen, was ich meine? Das Einzige, woran ich mich ab heute noch halten muss, sind die gesetzlichen Mindeststandards!

Und das tue ich auch. Hier mein Angebot an Sie: 766,94 Euro monatlich ... Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie sich gerne anders orientieren.<<

Anna Lehmann kann es nicht fassen: >>Ich bin eine gut ausgebildete Fachkraft! Nach dem Entgelttarifvertrag bekomme ich mindestens die Entgeltgruppe ...<<

Der Chef reagiert ungehalten: >>Frau Lehmann, es gibt keine Tarifentgelte mehr! Finden Sie sich damit ab. Und noch eins: Wenn Sie krank werden, dann gibt's sechs Wochen Entgeltfortzahlung, und zwar 100 Prozent, auf der Basis des vereinbarten Monatseinkommens. Sie erinnern sich: 766,94 €.<<


>>Und was ist mit den vielen Überstunden, die ich immer mache, den Prozenten?<<, fragt Anna Lehmann zunehmend mutlos.

D
er Chef wird barsch: >>Schauen Sie doch mal ins Gesetz. Wo steht da, dass Sie für Überstunden überhaupt Prozente bekommen müssen? Und nun weiter im Text. Sie stehlen meine Zeit! Ihre Arbeitszeit beträgt ab sofort 48 Stunden in einer Sechs-Tage-Woche, also von Montag bis Samstag. Und da wir ein Betrieb sind, in dem nach dem Arbeitszeitgesetz Sonn- und Feiertagsbeschäftigung zugelassen ist, müssen Sie auch ran. Aber ich garantiere Ihnen 15 freie Sonntage im Jahr.<<

Anna Lehman ist sprachlos.

>>Ach, und bevor ich es vergesse, Ihr Jahresurlaub beträgt 24 Werktage. Und damit das klar ist: Werktage sind alle Tage, die nicht gesetzliche Sonn- und Feiertage sind. Und Urlaubs- und Weihnachtsgeld sind auch nicht vom Gesetz vorgeschrieben!<<

A
nna Lehmann, in einem letzten Versuch, ihren Mut und Elan vom Morgen wiederzugewinnen: >>Und was ist mit meiner Altersversorgung?<<

Voller Wut brüllt der Chef seine Angestellte an: >>Das reicht! Frau Lehmann. Sie sind entlassen!!!<<

>>A...aa... aber ich bin doch unkündbar ..<<, Anna Lehman ringt um Worte. Die Antwort ihres Chefs verhallt im Hintergrund: >>Wo steht das denn? Ich glaube, Sie träumen!<<

Und genau in diesem Moment wacht Anna Lehmann auf. Und ist heilfroh: Hoffentlich wird dieser Alptraum niemals Wirklichkeit!

Weder unter der Dusche noch beim Weg zur Arbeit kann Anna Lehmann die Erinnerung an diesen üblen Traum verdrängen.

>>Ich muss heute in der Mittagspause unbedingt mit meinen Kolleginnen und Kollegen darüber reden, wie wichtig es ist, Mitglied in der Gewerkschaft zu sein. Allein erreicht man gar nichts!<< Anna Lehmann weiß jetzt, wie es sich anfühlt, ohne Gewerkschaft zu sein. Zum Glück nur im Traum.

 

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